Martinsried – Ein Hauch von Wehmut weht über Baugruben
Eine kleine Serie wirft einen Blick auf die Entwicklungen an einzelnen Standorten. Den Beginn macht München-Martinsried, denn eine Fülle von personellen Veränderungen und viele Baustellen lassen die Region derzeit etwas kopf- und führungslos erscheinen.
Die aktuellen heftigen Schneefälle mit Ausfällen im öffentlichen Nahverkehr, schlecht geräumte Wege und Straßen und ein durch die U-Bahn-Tunnelarbeiten kaum passierbarer Waldweg haben noch einmal deutlich gemacht, wie abgelegen und schlecht angebunden Martinsried tatsächlich ist, solange es noch keine Flugtaxis gibt.
Partystimmung …
Und so mischen sich zum Jahresende ganz unterschiedliche Stimmungen in den Rück- und Ausblick über den in der Selbstbeschreibung „führenden deutschen Biotechnologiestandort“. Die BIO-Europe, die Anfang November über eine Stunde Reisezeit entfernt vom Innovationscampus ganz im Osten Münchens in den dortigen Messehallen stattfand, konnte auf der einen Seite der betrachteten Medaille mit neuen Rekordzahlen bei den Teilnehmern und den vereinbarten Partnering-Gesprächen aufwarten. Zur Kernmotivation der Teilnehmer, sich das teure Ticket zu leisten, gehört dann auch, Zutritt zu angenehmen, entspannten und die Networking-Freude beflügelnden Rahmenveranstaltungen zu erhalten wie dem Staatsempfang in der Münchner Residenz und einer Fülle von Standempfängen der Aussteller in der Messe selbst, um dort auch den 30. Geburtstag des Veranstalters EBD Group zu feiern. Zudem zeigten die offiziellen Abendveranstaltungen in bayerischen Bierkellern ein gerne transportiertes Bild der Region zwischen Weißwurstäquator und Alpenkette. Wer die „Lizenz zum Dauerfeiern“ (sprich: die begehrten Extra-VIP-Einladungen) besaß, konnte sich bei diversen weiteren Essens-, Trink- und Tanzgelegenheiten energetisch aufladen, um die folgenden intensiven Stunden auch auf der seriösen Seite des Innovationsmarketings zu überstehen.
Denn darum geht es bei allen BIOs dieser Welt, ob in den USA, in Europa oder in Asien: die Entdeckung der Forscher so zu präsentieren, dass die Investoren nicht anders können, als sich überzeugen zu lassen. Doch der Investor ist ein scheues Reh, vor allem dann, wenn die allgemeine Wirtschaftslage schwierig erscheint und die Biotech-Indizes dieser Welt nach unten taumeln. Damit wird die Beschaffung von Investitionsmitteln bei den eigentlichen Finanziers der vor wenigen Monaten noch gut gefüllten VC-Fonds durch Inflation und steigende Zinsen – und wiederum wenig erfolgversprechend erscheinende fallende Aktienkurse – durch diese VC-Investoren selbst immer schwieriger, da dieses Geld eben doch nicht unerschöpflich sprudelt. Spielt es in diesem Zusammenhang eine Rolle, wo ein solches Event stattfindet und muss es einen interessieren, ob der ganze international-globale Rummel auch eine nachhaltige Wirkung für den Veranstaltungsort und seine lokalen Akteure hat? Das Partyvolk zieht weiter zur nächsten Partymeile, nach Barcelona, Stockholm, Basel … und zurückbleibt wie nach jedem kräftigen Adrenalinstoß eine gewisse Müdigkeit, Erschöpfung, ja Ernüchterung – von Ausnüchterung ganz zu schweigen.
… und der Kater danach
Diese Ermüdungserscheinungen zeigten sich auf der anderen Seite der hier beleuchteten Standort-Medaille nur wenige Wochen später, Ende November, bei einem der sogenannten IZB-Brunches deutlicher. Dort wurden nämlich neben wissenschaftlich spannenden Vorträgen zu neuen CAR-T-Ansätzen auch gleich mehrere Abschiede öffentlich und diskutiert. Nun liegt frei nach Hermann Hesse in jedem Abschied auch ein Neubeginn und damit ein Aufbruch in eine Zukunft, in Perspektiven und neue Möglichkeiten. Aber vielleicht der Jahresendstimmung geschuldet, schwingt beim Abschied des langjährigen Geschäftsführers Peter Hanns Zobel, der das IZB im Frühjahr nach 27 Jahren verlässt, mehr mit. Vielleicht auch, dass er von den vielen Kämpfen um sein Gründerzentrum erschöpft ist, das sich gerade wie eine Insel gegen die anbrandenden Baumaschinen des U-Bahn-Tunnels, die raumgreifenden Vorboten des Neubaus der Max-Planck-Institute und absehbar auch gegen den kompletten Neubau des Großklinikums Großhadern behaupten muss. Denn eigentlich wollte Zobel selbst endlich wieder zum Bauhelm greifen, wie er es zu seiner Zeit alle paar Jahre tat, um regelmäßig Erweiterungen, Kindergärten für die Mitarbeiter der Start-ups oder auch den Hotelturm als Wahrzeichen des Campus zu entwickeln, zu planen und die Baumaßnahmen akribisch zu überwachen. Nur die nächste, aus seiner Sicht notwendige Erweiterung des Gründerzentrums mit einem Neubau für die „erwachsenen“ Firmen fand bei den öffentlichen Geldgebern trotz jahrelanger gebetsmühlenartiger Forderungen der Branche kein Gehör. Vielleicht auch deshalb, weil mit all den Bergen von Kiesaushub und den noch zu erwartenden temporären Baumaßnahmen für die Wissenschaftler von Max-Planck und Klinikum derzeit einfach kein Platz, keine Wiese mehr für einen solchen Biotech-Gewerbepark zur Verfügung stehen will.
Die Nachfolge Zobels muss noch in diesem Jahr im Bayerischen Wirtschaftsministerium entschieden werden, will man im Frühjahr die geeignete Person zur Übergabe präsentieren oder ihr noch eine gewisse Überlappung mit dem erfahrenen Zentrumsmanager einräumen. Schneller ging der Wechsel der langjährigen Kommunikationsleiterin des IZB, Susanne Simon, vonstatten, die die Veranstaltung für ihre Abschiedsworte und die Vorstellung ihrer Nachfolgerin nutzte. Auch der Hotel- und Restaurantmanager verlässt Martinsried nach nur vier Jahren schon wieder, und auch die langjährige Wirtschaftsreferentin der kleinen Wissenschaftsgemeinde Planegg (die den Ortsteil Martinsried beinhaltet) entschwand in den Vorruhestand. Mit der Pensionierung von Horst Domdey, Gründer der Clusterorganisation BioM und langjähriger Mitgeschäftsführer auch des IZB, zum Jahreswechsel 2022 und den jetzigen personellen Veränderungen wirkt der Münchner Biotech-Cluster trotz vieler Aktivitäten und Erfolgsmeldungen zur BIO-Europe damit etwas kopf- und führungslos auf ziemlich vielen Positionen.
Baustellen draußen und drinnen
Das Bild der vielen realen Baustellen, die auch in die tägliche inhaltliche Arbeit einer Clusterorganisation hineinreichen, würde auch der neue BioM-Geschäftsführer Prof. Ralf Huss nicht leugnen. Gravierende Versäumnisse, Fehler oder eine fehlende Strategie kann man ihm nach dem ersten „Probejahr“ sicher nicht vorwerfen. Nach außen dringt von neuen Konzepten allerdings noch wenig, da erst für 2024 wieder ein solcher Plan im Ministerium zur Genehmigung ansteht. Wenig Außenwahrnehmung einer Standortstrategie und -planung ist aber vielleicht auch zu wenig, wenn man sich andere Standorte anschaut, die keine solchen Ermüdungserscheinungen zeigen, sondern eher auftrumpfen: Mainz, Leipzig, Berlin, Heidelberg, Köln, Göttingen … Von internationalen Standorten ganz zu schweigen, zu denen sich jetzt auch noch Litauen vollmundig mit einem Sieben-Milliarden-Life-Science-Zentrum in Vilnius mit einem komplettem Angebot von Biotech-Forschung bis -Produktion gesellen will und schon die Baumaschinen auffahren lässt.
Welche Zukunftsstrategie wirft nun München-Martinsried in den Ring des internationalen Wettbewerbs, um auf der Innovationslandkarte ein dauerhaft sichtbares Fähnchen zu setzen, das nicht nur alle paar Jahre im Wind flattert, wenn der BIO-Europe-Festzug vorbeizieht? Welche Strategie hat München bisher verfolgt, um die gewachsene Biotech-Landschaft auch in schwierigen Zeiten und bei wachsender Konkurrenz durch andere Innovationsstandorte in eine erfolgreiche Zukunft zu führen? Wenn man ehrlich ist, stützte sich das Standortmarketing Münchens als vorgeblich erfolgreichster Biotech-Standort der Nation bisher im Wesentlichen auf zwei Leuchttürme: Zobel und Domdey. Beide würden das sicherlich von sich und auf die vielen erfolgreichen Unternehmen verweisen, um die es immer ging und geht. Doch die Erfolge vieler dieser Biotech-Unternehmen, die zum Teil auch als „Leuchttürme“ im bekannten EY-Report gepriesen werden, sind bei näherem Hinsehen nicht mehr ganz so strahlend. Derzeit leuchtet zwar noch Morphosys, aber in das Licht mischt sich mitunter ein Flackern wie bei einer falsch eingeschraubten Glühbirne. Denn immer noch hängt Wohl und Wehe von einem einzigen Medikament ab, bei dem sich in diesen Tagen und Wochen entscheidet, ob es die ausgemalten Erfolgsaussichten auf eine Zulassung überhaupt noch wird rechtfertigen können. Dieses Setzen auf ein einzelnes Pferd im Stall hatte bei GPC Biotech vor Jahrzehnten alle Lichter ausgehen lassen und wirkt bis heute als bittere Lektion in vielen Köpfen nach, sollte man zumindest meinen. Schwach glimmt das Licht auch bei Medigene, einem anderen ehemaligen Martinsrieder Leuchtturm, der vor nunmehr zehn Jahren einen Neuanfang in der Immunonkologie wagte, ohne bisher große Erfolge vorweisen zu können. Pieris im Norden Münchens, in Freising, sollte ein solcher Leuchtturm werden, aber dort kämpfen die letzten Verbliebenen auf der Kommandobrücke derzeit nur noch ums (eigene) Überleben.
Breites Fundament durch mittelständische Biotech-Unternehmen
Die eigentlichen Erfolgsmeldungen aus der Region München waren und sind eher die vielen kleinen Entwicklungsschritte und Meldungen der kleineren Unternehmen aus der Geräte- und Technologieplattform-Ecke oder aber auch alle paar Jahre die gewaltigen Summen, die Roche Diagnostics immer wieder in neue Forschungs- und Produktionsgebäude im nahen Penzberg pumpt, und dort von einst 2.000 auf nun bald 7.000 Beschäftigte angewachsen ist. Was nicht heißt, dass es in München keine spannenden und vielversprechenden Projekte gäbe: ITM als Flaggschiff der zielgerichteten Radiopharmazie etwa, Immunic mit einem vielleicht bahnbrechenden Medikament gegen Multiple Sklerose, Tubulis mit viel Aufmerksamkeit für die eigenen Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, Invitris, Eisbach Bio, Noselab … Aber Leuchttürme? Zobel und Domdey hatten sich als leuchtturmstarke Standortvertreter erwiesen und in mehr als zwei Jahrzehnten des Aufbaus der Münchner Biotech-Szene dafür gesorgt, dass sich ein viel breiteres Ökosystem an Akteuren und Unternehmen entwickelt und angesiedelt hat, als es bei der oberflächlichen Suche nach Leuchttürmen deutlich wird. Diese breite Basis als ein stabiles Fundament, auf dem hin und wieder auch ein Leuchtturm errichtet werden kann, wird von den Münchner Technologie- und Dienstleistungsanbietern gebildet und geprägt. Die meisten von ihnen sind im Arzneimittelbereich bei der Wirkstoffsuche, -optimierung und den vielfältigen analytischen Testverfahren mit Geräten, Analysekits und Substanzen oder Know-how tätig, aber längst auch nicht mehr auf den Standort München beschränkt. Im Gegenteil, ihr Geschäft ist international und global und der Münchner oder der deutsche Heimatmarkt eher zweitrangig.
In dieser Gemengelage von fehlenden oder flackernden Leuchttürmen, von gar nicht mehr regional, oder standortbezogen denkenden, global agierenden Biotech-Unternehmen eine Zukunftsstrategie für eine in Landes-, Stadt- und Gemeindegrenzen denkende Politik zu entwickeln, ist kein Pappenstiel. Die bayerische Politik wird in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Biotech-Standortes München gerne unterschätzt. Dabei war es der dortige Counterpart im Wirtschaftsministerium, Ronald Mertz, der den Visionen und Entwicklungsplänen von Horst Domdey und Peter Hanns Zobel immer wieder den finanziellen Segen gab und auch einige Millionen für „besondere“ Biotechnologie-Projekte aller Art im Haushalt parkte. Mertz‘ Nachfolger Manfred Wolter füllte diese Fußstapfen wirkungsvoll aus, hat aber auch stärker als sein Vorgänger mit dem nachlassenden Interesse an einer sich ja – laut Selbstvermarktung – so erfolgreich entwickelnden Nischenbranche zu kämpfen. Die blitzartige Aufmerksamkeit der Politik durch Corona war dabei nur bedingt hilfreich und nur eine Welle, die nach der Pandemie ebenso versandete. Im Nachhinein war es vielleicht auch nicht ganz so klug, in der Hochphase der Pandemie ein Sonderprogramm zur Entwicklung von Therapeutika – die, wie jeder Branchenkenner weiß, erst in ca. 10–15 Jahren zu Wirkstoffen für eine Pandemie führen können – zu fordern und zu fördern und dies als Alleinstellungsmerkmal des Standortes gegenüber der Politik darzustellen – ganz bewusst im Gegensatz zu den Impfstoffentwicklern andernorts. Doch diese haben nach dem durchschlagenden Erfolg der Corona-Impfstoffe dann umso deutlicher gezeigt, dass auch an anderen nationalen Standorten klug gedacht und vielleicht sogar besser entwickelt und produziert werden kann.
Gesucht wird: das neue Gesicht der Region
Das muss nun München erneut unter Beweis stellen. Natürlich tut sich etwas in der Region, auch ohne Zobel und Domdey. Die Göttinger Life Science Factory verstärkt das Gründerökosystem am Helmholtz Zentrum München. Die beiden Universitätskliniken verbünden sich in einer (derzeit nur auf dem Papier starken) „M1 – Munich Medical Alliance“. Private Unternehmer bauen die Laborzentren in Gräfelfing, Neuried und Martinsried, die Zobel gerne mit Staatsgeld gebaut hätte. Im Norden mausert sich das flughafennahe Halbergmoos zu einem Life-Science-Standort mit angedockter Surferwelle. In Oberschleißheim schließlich soll ein riesiges Areal für die Kombination von Tier- und Humanmedizin und innovativen Start-ups unter dem Motto „One Health“ entwickelt werden – von den Planern, die einst auch den Standort Martinsried mitentworfen haben. Dennoch mutet die Koordination und Kombination all dieser Fragmente zu einem Gesamtkunstwerk wie eine Herkulesaufgabe an. Zudem ist eine solche strategische Entwicklungsplanung und das Zusammenweben der vielen losen Enden selbst im Zusammenspiel mit dem grundsätzlich wohlwollenden Wirtschaftsministerium eine Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte.
Wer hierfür die Persönlichkeit ist, die sich wie Zobel oder Domdey daraus eine Lebensaufgabe auf den Leib schneidern lässt, den Flohzirkus aus Wissenschafts- , Klinik-, Wirtschafts- und Politikeminenzen in einem Orchester zu versammeln, das den richtigen Ton trifft und die passende Standorthymne der Zukunft aufspielt – derzeit unklar. Eines aber ist sicher: Andere Standorte sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, sich als Weltinnovationszentren zu positionieren, haben die Roadmaps und strategischen Planungen bereits zu Papier gebracht, trumpfen mit bunten Architekturträumen auf und nehmen viel Geld in die Hand oder behaupten dies zumindest. Führungslosigkeit oder Müdigkeit kann sich München somit gewiss nicht leisten.